Strickgraffiti macht Schule
Prof. Heidi Helmhold
Seminar „Strickgraffiti macht Schule“
Dozentin Anika Dürhager 29.Juni 2012
Begleitendes Bildmaterial: Homepage
Die Do-it-Yourself Bewegung (DIY)
Bereits 1907 bezeichnete der Deutsche Werkbund Handarbeit als poetisch, Maschinenarbeit als nüchtern, Handarbeit als persönlich, Maschinenarbeit als unpersönlich.
In den 50er Jahren bekommt die DIY-Bewegung ihren Namen. Sie wendete sich zum Teil gegen das professionelle Expertentum, hegte ein Misstrauen gegenüber der Industrie, auch gegen die seelenlose Massenproduktion.
Das Selbermachen war zudem preiswerter, zum Teil ‚aus der Not geboren’ und hatte eine individuelle Handschrift, die genau ‚Passendes’ produzierte. „Selber machen“ kann auch bedeuten, der Gesellschaft subversiv mit Eigensinn zu begegnen.
Stetig vermehren sich die DIY-Netzwerke und halten Einzug in viele Bereichen, Tipps und Ideen werden ausgetauscht, unterstützt durch die digitale Vernetzung.
Das klassische Flugblatt wird ersetzt durch soziale Medien wie facebook, Twitter und blogs und erreicht so natürlich eine viel breitere Leserschaft.
Teilweise kann dies als Alternativ- und Gegenkultur bezeichnet werden, mit den Forderungen nach Selbstbestimmung und Autonomie.
Das Museum für Kommunikation in Frankfurt widmete 2011 den DIY-Thema eine komplette Ausstellungsreiche mit zahlreichen Workshops.
Strickgraffiti
Handarbeit ist persönlich, erfordert Zeit, ist meditativ, individuell (‚so wie ich gestrickt bin’) und verbindend.
Beim Stricken für den öffentlichen Raum kontrastiert oftmals Hartes mit Weichem.
Die Zweckmäßigkeit eines Strickwerks wird durch die Ästhetik (gr. aithésis) ersetzt und verweist somit auf die Wahrnehmung und Empfindung.
Die Innen- und Außenwelt werden durchlässiger, genau wie Privatheit und Öffentlichkeit.
Straßenstrick macht Beziehungen sichtbar, des Herstellens, mit dem Gegenstand, mit dem Ort... man kann von Beheimatung sprechen.
Stricken für den öffentlichen Raum ist eine Form der Selbstmitteilung, bei der es auch um eine Verortung historischen und kulturellen Kapitals geht.
Verschiedene Menschen beteiligen sich an der Kunst des Selbermachens und Loslassens (es wird hergestellt, angebracht und danach dem Rezipienten überlassen), bringen so in immer sterilere Lebensräume Lebendigkeit und Individualität.
Es scheint eine Sprache zu sein, die international verstanden wird, das „critical crafting“ stellt sich als Kunstwerk an sich dar.
B-Arbeiten
Ich persönlich empfinde jegliche Art des Strick-Graffiti als berechtigte Verortung im öffentlichen Raum, alles, was in dieser Hinsicht liebevoll oder kritisch angefertigt wurde, hat seine Bedeutung.
Mit meinen Arbeiten versuche ich konzeptionell eine Ausweitung.
Es gibt die B-Arbeiten (ein Wortspiel), die ich kostenlos versende oder mitgebe, die mit Wertebegriffen bestickt oder beschrieben sind, die alle Menschen, egal welcher Nationalität, Herkunft, unabhängig vom sozialen Status oder der Hautfarbe, der Religion... miteinander verbindet (z.B. Empathie, Würde, Toleranz, Selbstbestimmung, Verantwortung...).
Mit dieser weltweiten Wertverschickung möchte ich eine ‚andere’ Form der Globalisierung beschreiben.
Extrahiert habe ich diese Worte als Ergebnis einer intensiven Beschäftigung mit Philosophie, es steckt viel Gedankengut dahinter, ich habe auf Kernbegriffe reduziert, die meines Erachtens Vorraussetzung für ‚Gesellschaften’ sind. Das weich-bunte, handgearbeitete Erscheinungsbild symbolisiert die friedfertige Absicht, lädt zum genaueren Hinsehen ein.
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass alles miteinander zusammenhängt, wörtlich und im übertragenen Sinne.
Das Foto ist das, was bleibt, das poste ich wiederum weltweit auf der B-Arbeiten facebook-Seite und teile es mit denen, die es möchten. So entsteht ein zweifaches Netz: im öffentlichen Raum, im Internet.
Mittlerweile gibt es 235 B-Arbeiten in 76 Städten und 29 Ländern.
Außerdem umfasst B-Arbeiten noch weitere Aktionen: die Kissen, die (mit Zitaten versehenen, deren Vorderseite, im Ganzen betrachtet, in der Gesamtheit einen auf einander aufbauenden Farbverlauf bilden ) ich vor Museen platziere und dort dem Raum überlasse.
Den Sessel/die Sessel, die ich, um sie zu fotografieren, an ungewöhnliche Orte stelle. Die Sessel sind ‚unbesetzt’, laden zum ‚setzen’ ein...
Das Tipi
Anknüpfend an die symbolische Bedeutung des umhäkelten Baums in Velbert verweist auch das Tipi auf eine eigene, diesmal mobile Symbolik. Hier für eine Form des temporären Baus, leicht zerlegbar und transportabel – im Gegensatz zur festen, ortsgebundenen Verwurzelung des Baumes.
Es verweist auf uralte Traditionen, ist ein Ort der Gastfreundschaft, der Begegnung und der Zuflucht.
Ein Zelt steht aber auch für ‚auf dem Weg sein’.
Man findet sie auf Campingplätzen, bei den Pfadfindern, bei Festen... oder sie dienen als Zufluchtsorte in Katastrophengebieten.
Momentan gibt es die ‚Occupy-Bewegung’, die mich zwar nicht direkt beeinflusst hat, deren Grundgedanke durchaus kompatibel ist.
Die Bewegung zitiert Brad Pitt in seiner Rolle als Tylor Durden in Fight Club:
„Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen, mit Geld, das wir nicht haben, um Leute zu beeindrucken, die wir nicht mögen.“
Die Bewegung protestiert gegen die Politik der Finanzmärkte, die Aushöhlung der Demokratie, für das Recht auf Bildung, für Arbeitsplätze, die gesellschaftliche Teilhabe).
Vor der documenta 13 entstand ein Dorf, das bleiben und wachsen darf.
Das gestrickt/gehäkelte Tipi weist darüber hinaus (auch weil es durch die Machart kein Zelt im herkömmlichen Sinne ist) auf die sowohl öffentliche als auch persönliche Symbolik hin, dies geht weit über die zunächst optische Erkennbarkeit hinaus.
Die Machart ist dreidimensional, das Gewebe wird nur partiell von Stangen gehalten, ist durchscheinend.
Geht man hinein , erlebt man etwas ganz persönliches, ein Umfangensein, eine ruhige Stimmung, Geborgenheit – trotz Transparenz.
Der Innen- und Außenraum vermischen sich, der Außenraum wird bei Tageslicht nach innen ‚gefiltert’, nachts strahlt das erleuchtete Tipi nach außen, mittags bietet es Schutz vor der Sonne usw. – das erlebt jeder individuell für sich.
Es geht um eine Raumwahrnehmung: innen – außen – natürlich – geschaffen – die Durchdringung... die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft...
... um Farbe, Transparenz und Licht...
Betritt man das Tipi, bedarf es keiner Erklärung, die Eindrücke erschließen sich von selbst.
In diesem Zusammenhang ein Zitat von Günter Grass aus ‚Die Rättin’, von 1986, ein Verortungsversuch in der postmodernen deutschen Literatur:
„Nie werde ich die überall, rund um den Erdball strickenden, aus Not und Gefälligkeit, auch aus Zorn und Trauer strickenden Frauen verspotten. Ich höre sie gegen die rinnende Zeit, gegen das drohende Nichts, gegen den Anfang vom Ende, gegen jedes Verhängnis aus Trotz oder begriffener Ohnmacht mit ihren Nadeln klappern“... „als wollten sie den Faden nie abreißen lassen...“
Die Arbeit des Tipis baut auf meine bisherigen Strick-Kunst-Aktivitäten auf, die weltweite Dynamik dieser Bewegung und die praktisch-theoretische Auseinandersetzung.
Die mobile Arbeit kann und soll auch an verschieden Ausstellungsorten platziert werden, zum realen ‚Erleben’.
Zudem ist ein partizipatorisches Projekt geplant, jeder der mag ist gerne dazu eingeladen.
Das Tipi besteht in dieser Größe aus 1000 einzelnen Quadraten.
Diese können einzeln oder in Gruppen, mit der Gruppe, die ich anleiten werde oder in einer eigenen Gruppe angefertigt und zu mir geschickt werden.
Ich werde sie dann in der Reihenfolge des Eingangs zusammenfügen.
Durch diese Gemeinschaftsarbeit werden die Handschriften der einzelnen ‚Künstler’ sichtbar, es entsteht eine gemeinsame ‚Zelthaut’ Anknüpfend an die Betrachtung des schon bestehenden Tipis: je näher man an das Gewebe herangeht, desto besser kann man durchschauen...
In Zeiten der emotionalen Orientierungslosigkeit möchte ich mIt gemeinsamen und einzelnen Werken einen kleinen Beitrag zum „eigenen Erleben“ leisten.
Joseph Beuys sagte, dass jeder Mensch ein Künstler sei, er sprach von sozialer Plastik, für die jeder einzelne die Verantwortung trägt.
Und zum Abschluss noch die Antwort von Joachim Gauck, anlässlich der Eröffnung der documenta 3, auf die Frage was Politik denn von der Kunst lernen könne:
„ Gauck: „Na, nicht so viel an Grundsätzen, keine Handlungsanweisungen für das Alltagsgeschäft, sondern die Politik kann lernen, dass der Mensch mehr umfasst, als nur seinen Verstand und sein Denken in Kategorien der Nützlichkeit, sondern dass wir eine weite Seele haben und die muss ab und zu aufgefrischt werden. Wir brauchen die Kunst wie die Religion oder die Philosophie, um tiefer in die Dinge hineinzukommen und in uns selber, also uns selbst zu entdecken und Lust haben, mit dieser Welt in Beziehung zu treten. Also, Kunst kann uns aufwecken.“ (...)
Gauck nach dem Rundgang mit Führung: „Mein Kopf und mein Herz, mein Gefühl haben etwas bekommen (...)“
Ich freue mich über jeden, der mitmacht und Kontakt aufnimmt!
Ute Lennartz-Lembeck